Immer mehr Obdachlose in Sachsen – Anstieg vor allem in Leipzig

Im Freistaat steigt die Zahl der Obdachlosen. Weshalb das Problem größer wird und warum Großstädte mehr betroffen sind.

Wohlfahrtsverbände, Sozialarbeiter und Kommunen in Sachsen registrieren eine höhere Zahl von Menschen, die kein Obdach haben oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Vor allem in Leipzig steigen die Zahlen deutlich.

Eine offizielle Statistik zum Thema gibt es erst seit 2022 – sie zeigt aber nur die untergebrachten Wohnungslosen im Freistaat. Deren Zahl ist von 1665 im Januar 2022 auf 2935 im Januar 2023 gestiegen. Schon länger werden beim Diakonischen Werk der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Sachsen die Wohnungsnotfälle erfasst, die in den diakonischen Beratungen und ambulanten Wohneinrichtungen der Diakonie aktenkundig sind. Deren Zahl hat sich zwischen 2005 und 2022 von 1754 auf 3108 erhöht. Als Wohnungsnotfall gelten Menschen, die wohnungslos und von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder in unzumutbaren Verhältnissen leben.

Direkte Ermittlung in Leipzig

Die meisten Statistiken berücksichtigen „verdeckte Wohnungslose“ nicht, die keine Unterkünfte nutzen und ausschließlich auf der Straße leben. Um sich diesem Graubereich zu nähern, ermitteln in Leipzig Straßensozialarbeiter und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe regelmäßig obdachlose Personen: 2018 wurden durchschnittlich 62 Wohnungslose auf der Straße angetroffen; letztes Jahr waren es 144. Das Team des Leipziger Hilfebusses, der Obdachlose notversorgen und Kältetote verhindern soll, zählte zum Projektstart im Jahr 2019 noch 288 Betroffene, letztes Jahr waren es 362. „Wir merken, dass die Zahlen nach oben gehen“, sagt Tino Neufert von der „Straßensozialarbeit für Erwachsene“. Auch die Zahl der pro Nacht in Leipziger Notunterkünften untergebrachten Menschen wächst – von 183 (2018) auf 412 im letzten Jahr. In Dresden gibt es an dieser Stelle keinen Anstieg; allerdings sorge die längere Verweildauer für eine hohe Auslastung, teilt die Stadt mit.

Warum aber werden immer mehr Menschen obdachlos? Rotraud Kießling, Referentin für Wohnungsnotfallhilfe beim Diakonischen Werk, sieht ein Hauptproblem in hohen Mieten und Energiekosten. Zu sozialem Wohnungsbau hätten Obdachlose kaum Zugang. Außerdem sei die Angemessenheitsgrenze für die Übernahme der Kosten der Unterkunft viel zu niedrig. Und: „Es gibt zu wenig Präventionsangebote, die greifen, bevor jemand auf der Straße landet.“ Auf der anderen Seite wurde die Wohnungsnotfallhilfe ausgebaut – unter anderem im Erzgebirgskreis sowie in den Landkreisen Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Meißen. Damit seien viele Betroffene erst sichtbar geworden.

Obdachlose orientieren sich Richtung Großstadt

Generell orientieren sich Obdachlose eher in Großstädte. Hier könnten sie sich in eine gewisse Anonymität flüchten – schließlich sei das Thema stark schambehaftet, erklärt Rotraud Kießling. Man beobachte, „dass wohnungslose Personen ins Stadtgebiet kommen, weil es hier eine ,Community’ gibt“, sagt Leipzigs Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst. Ein anderer Grund: Die Leistungen sind besser. Die Wohnungsnotfallhilfe in der Messestadt sei sehr gut ausgebaut, so Kador-Probst. Das Spektrum reicht von der Straßensozialarbeit, über Tagestreffs und Übernachtungshäuser bis zur Übernahme von Mietschulden oder Hilfe bei der Wohnungssuche. Die Stadt Leipzig beschreibt im „Fachplan Wohnungsnotfallhilfe“ 36 weitere Maßnahmen, die von 2023 bis 2026 Verbesserungen bringen sollen und rund 2,1 Millionen Euro kosten. Umliegende Gemeinden könnten ein vergleichbares Angebot oft nicht vorhalten, erklärt Amtsleiterin Kador-Probst. Ähnlich stellt sich die Situation in Dresden und den Kommunen rund um die Landeshauptstadt dar.

Mit Blick auf die steigenden Zahlen muss dennoch mehr passieren, sagt Rotraud Kießling vom Diakonischen Werk. Zentrale Forderungen: Mehr Prävention, unbürokratischer Zugang zu Leistungen der Wohnungsnotfallhilfe, kommunale Belegungsrechte für Sozialwohnungen und Neubau von Sozialwohnungen, Mietpreisgrenzen sowie höhere Kostenübernahmen für Miete und Energie. Eine weitere Reform des Insolvenzrechts könne ebenfalls helfen, meint Martina Kador-Probst. Denn viele Obdachlose scheitern bei der Wohnungssuche an ihren Schulden.


Norbert (65), obdachlos in Leipzig: „Ich wünsche mir mehr Respekt“

Die Zahl der Obdachlosen steigt. Einer von ihnen ist Norbert, der seit zwei Jahren in Leipzig auf der Straße lebt. Der 65-Jährige spricht über Schicksalsschläge, Hoffnungen und Wünsche – und warum er findet, dass die Stadt zu wenig für Obdachlose tut.

Leipzig. Kurz blickt Benny hoch, wirkt aufgestört. Eine flüchtige Berührung seines Herrchens genügt, und beruhigt rollt sich der Hund wieder zusammen. Wer Norbert kennenlernt, der merkt bald: Diesen Mann umgibt eine freundliche Besonnenheit, die nicht nur der kleine Vierbeiner spürt. Und das, obwohl der 65-Jährige genug Anlass hätte, in die Resignation zu rutschen. Denn das Schicksal meint es nicht gut mit ihm. Seit knapp zwei Jahren lebt Norbert auf der Straße.

Es ist 15 Uhr, als die Sonne doch mal kurz die Bank bescheint, auf der Norbert mit ein paar Bekannten sitzt, darunter ein Vornamensvetter, den er regelmäßig trifft. Allein ist der gebürtige Westfale offensichtlich selten. Vielleicht zieht die anderen jener ruhige, unaufgeregte Ton an, der ihn von manch anderen Obdachlosen unterscheidet. Denn je nach Alkohol- oder Drogenkonsum kann es an Orten wie dem Hauptbahnhof laut und aggressiv werden.

Mehrere Schicksalsschläge

Hätte Norbert jemand vor dem Sommer 2021 prophezeit, dass er mindestens zweimal vier Jahreszeiten ohne Dach über dem Kopf leben müsste, er hätte ihm einen Vogel gezeigt. Solch eine Bruchstelle im Leben, „die war für mich unvorstellbar“. 1958 in Hamm im Nordosten des Ruhrgebiets geboren, absolvierte Norbert eine Lehre zum Maler und Bauschlosser. Die letzten 15 seiner insgesamt knapp 50 Arbeitsjahre verdiente er sein Geld als Selbstständiger im Bereich Fertighaus- und Trockenbau.

Anfang der 1990er-Jahre zog er mit seiner Frau aus dem niedersächsischen Hildesheim ins nordsächsische Bad Düben, weil er dort häufig auf Montage war und das Pendeln satthatte. „Das war ein beschauliches, angenehmes Leben“, sagt er. Bis ihn die Summe aus einschneidenden Ereignissen aus der Bahn warf.

Mieterhöhung zwang zum Auszug

Vor 16 Jahren starb eines seiner fünf Kinder. Der Jugendliche ertrank in der Mulde. Ein harter, kaum verkraftbarer Schlag, dem vor vier Jahren ein weiterer folgte: Seine zweite Frau verlor den Kampf gegen den Krebs. Nach einem gemeinsamen Vierteljahrhundert war Norbert allein. Zwar hat er noch Kontakt zu seinen Kindern, doch die leben im 350 Kilometer entfernten Detmold. „Der Tod meiner Frau hat mich ausgehebelt“, sagt er. Vor gut zwei Jahren kam finanzielle Not dazu: eine Mieterhöhung um 200 Euro. „Das konnte ich nicht stemmen, es blieb nur der Auszug.“

Bepackt mit Zelt, Rucksäcken und Schlafsack zog es ihn nach Leipzig, in der Hoffnung, in der Großstadt schneller etwas Bezahlbares zu finden. Absicherung erwartete er außerdem von der Rentenkasse, „ich habe schließlich über Jahrzehnte eingezahlt“. Doch dann habe die Bürokratie ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, das Amt habe nicht mitgespielt. „Bis heute gab es keinen Cent für mich, aber ich werde nicht aufgeben“, sagt er.

Der nächste Schock im letzten Jahr

Aus kurzer Obdachlosigkeit bald in die Normalität zurückkehren – ein Plan, den die prekäre Lage auf dem großstädtischen Wohnungsmarkt als Trugschluss entlarvte. Seit Sommer 2021 steckt Norbert in einer Situation, in die jeder rutschen kann, wie er betont. Vor einem Jahr folgte der nächste Schock: Seine jüngste, 31-jährige Tochter starb bei einem Verkehrsunfall. „Ja, äußerlich wirke ich meist ruhig und gelassen“, sagt er, „aber manchmal schreit es in mir drin.“

Anzutreffen ist Norbert im Leipziger Zentrum – auf dem Markt, auf einer Bank nah am Neuen Rathaus oder bei Wind und Wetter in der überdachten Nische der U-Bahn-Haltestelle Leuschnerplatz. Das Gelände am Hauptbahnhof inklusive Bahnhofsmission, von vielen anderen Obdachlosen stark frequentiert, meidet der 65-Jährige. „Zu viele Drogengeschäfte, zu viele Suchtkranke“, sagt Norbert. Er selbst kaufe sich zwar ab und zu ein Bier oder einen Schnaps, betrinke sich jedoch nicht.

Zahlen steigen drastisch an

Obdachlosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das Jahr für Jahr wächst, überall. Bei der Diakonie Sachsen suchten 2022 mehr als 3000 Menschen Hilfe, darunter 200 Familien mit Kindern. Im bundesweiten Vergleich liegt der Freistaat in puncto Obdachlosigkeit zwar im unteren Drittel (auf 1000 Einwohner kommen 0,4 wohnungslose Personen), doch wegen akuten Wohnraummangels sowie stark gestiegener Lebenshaltungskosten steigen die Zahlen drastisch an. Mittlerweile gehören auch in den kleineren Städten Obdachlose zum Straßenbild – in Wurzen beispielsweise.

In Leipziger Notunterkünften wurden 2022 im täglichen Durchschnitt 412 Personen gezählt – 129 mehr als im Vorjahr und damit ein Zuwachs von knapp 46 Prozent. Im Schnitt blieben sie dort 97 Tage lang; eine Steigerung seit 2017 um 21 Tage oder 27,4 Prozent. Ein weiterer Faktor für diese Entwicklung ist laut Sozialbericht der Stadt der Mangel an Kapazitäten in betreuten Nachsorgeeinrichtungen und der Suchttherapie. Das Ziel der Kommune, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, scheint weiter entfernt denn je.

Viele meiden Notunterkünfte

Zahlen, die längst nicht das komplette Ausmaß des Problems abbilden. Denn viele Betroffene suchen die Notunterkünfte nicht einmal bei Minustemperaturen auf: Weil sie es nicht mehr gewohnt sind, sich über längere Zeiträume in vier Wänden mit vielen Leuten aufzuhalten – oder weil in den Einrichtungen Alkohol und andere Drogen verboten sind, Suchtkranke aber nicht darauf verzichten wollen oder können. Beklagt werden zudem Diebstähle. Und in der Regel sind Hunde nicht erlaubt.

Das ist auch für Norbert der Grund, sich ausschließlich draußen aufzuhalten. „Meinen Benny lasse ich nicht allein“, sagt er und streichelt seinen Vierbeiner, der ein überdurchschnittlich hohes Alter erreicht hat: 16 Jahre. Genauso alt wie Norberts Schmerz über den Verlust seines Sohnes. Benny ist mehr als ein treuer Gefährte. Er ist die lebendige Vergewisserung, dass Norbert einmal ein anderes Leben geführt hat. Und Antrieb für die vage Hoffnung, irgendwie irgendwann dorthin zurückzukehren.

Nun sitzt Norbert neben einigen anderen vor dem begrünten Abschnitt am Martin-Luther-Ring, mit einem freundlichen Gesicht unter dem ausgebleichten Basecap, dessen Aufdruck wie ein makabrer Scherz anmutet: „Bleib wie dein Bier – frisch.“ Unter der Bank blinzelt der Hund, daneben steht der Einkaufstrolley, voll von Beuteln, Tüten, Zelt, Schlafsäcken.

Aus den Habseligkeiten ragt eine Krücke, denn Norbert kann nicht mehr gut laufen. Wegen eines Arterienverschlusses im Bein hat er bereits sieben Bypässe bekommen. „Ich müsste auch mal wieder ins Krankenhaus, damit der Bluteinstrom stabilisiert wird“, sagt er und fährt sich durch den weißen, zauseligen Bart, um den Mund herum vergoldet von Nikotin.

Stammplatz am Rathaus

Norberts Stammplatz für die Nachmittage liegt am Neuen Rathaus, wenige Dutzend Meter und Treppenstufen entfernt vom Sozialamt. Dessen neuer Fachplan für die Wohnungsnotfallhilfe sieht von 2023 bis 2026 zusätzliche Maßnahmen und Angebote vor, bei einem finanziellen Aufwand von 2,088 Millionen Euro. Dazu gehören das Ausweiten des sozialen Wohnungsbaus sowie die Verbesserung der Versorgung von Obdachlosen mit Pflegebedarf. Nicht zuletzt: die Prävention, damit Menschen gar nicht erst wohnungslos werden.

Trotz dieser Anstrengungen – Norbert kritisiert, dass die Stadt in anderer Hinsicht zu wenig für Menschen ohne Wohnung tue. „Auch wenn ich völlig verstehe, dass Geflüchtete in Leipzig ein sicheres Leben suchen, finde ich es ungerecht, dass sie eher Wohnraum bekommen als wir.“ Ein Statement in ruhigem Tonfall, frei von Groll und Zorn. Wie bekommt er das hin? „Ich habe keine Lust, mich von Dingen zerfressen zu lassen, die ich nicht ändern kann.“

Ein Wunsch: weniger Herablassung

Von der Bevölkerung wünscht sich Norbert manchmal weniger Herablassung, mehr soziales Verhalten, mehr Respekt. So wie von der Leipzigerin, die nahe am Luther-Ring wohnt und ihn jeden Mittwoch auf einen Schwatz besucht, manchmal etwas mitbringt für ihn oder Benny. Oder wie von den Polizisten, die ihn kennen, freundlich grüßen und nach seinem Befinden fragen.

Schön findet der 65-Jährige, dass es mehrere Projekte gibt, die Menschen wie ihm das Leben erleichtern und Wertschätzung entgegenbringen. Die Oase, wo er ab und zu duscht und sich aufwärmt. Den Hilfebus, der Essen und Kleidung dabei hat; die Frauen und Männer von „Meals on Wheels“, die an jedem zweiten Sonntag Lebensmitteltüten bringen; auch das HomePlanet Hostel in Connewitz, das bald im vierten Winter hintereinander Wohnungslose in Ein- oder Zwei-Bett-Zimmern unterbringt und beköstigt. Die Spendenkampagne dafür ist auf der Seite www.betterplace.org angelaufen.

Doch auch dieses Angebot, das vom 18. Dezember bis 7. März gilt, schlägt Norbert aus. Er bevorzugt die Stellen im grünen innerstädtischen Bereich, an denen er sein Zelt für die Nacht aufschlägt. Ärger bekam er dafür noch nie. Keine Angst vor dem nahenden Frost? Milde lächelnd schüttelt er den Kopf. „Ich habe mehrere Schlafsäcke, die halten uns warm, nicht wahr, Benny?“ Der hebt kurz den Kopf. Und legt ihn zurück auf die Pfoten.